100 Jahre Volksabstimmung: „Nichts, was nicht gerecht geregelt wurde, ist geregelt.“

  • Erstellt von Bundessyndikus Dr. Franz Unterasinger

Nach demErsten Weltkrieg hat durch die sogenannten Friedensverträge eine Neuordnung von Mittel- und Osteuropa stattgefunden. Das Deutsche Reich musste im Versailler Vertrag Elsass-Lothringen an Frankreich abtreten, Eupen und Malmedy an Belgien, Nordschleswig an Dänemark, Westpreußen, Posen und Ostoberschlesien sowie das Memelgebiet an Polen. Danzig wurde als Freie Stadt dem Völkerbund *) unterstellt. Deutsch-Österreich musste im Friedensvertrag von St. Germain Südtirol und das Kanaltal an Italien abtreten, das Miestal, Unterdrauburg und das Seeland, sowie die Untersteiermark an den SHS Staat, Deutschböhmen und Deutschmähren an die Tschechoslowakei; Deutsch Westungarn mit den Komitaten Wieselburg, Eisenburg, Ödenburg und teilweise Pressburg sollte zu Österreich kommen.
Ungarn musste im Vertrag von Trianon das heutige Burgenland an Österreich abtreten, die Karpatoukraine an die Tschechoslowakei, die Vojwodina an den SHS Staat, Prekmurje an den SHS Staat sowie Siebenbürgen mit dem Rest des Banats und mit Partium an Rumänien, ein kleines Gebiet mit 14 Dörfern im Norden an Polen.
Im Vertrag von Neuilly musste Bulgarien West-Thrakien mit der Hafenstadt Dedeagatsch, (heute Alexandropouli) an Griechenland abtreten, Zaribrod (heute Dimitrovgard) und Strumiza an den SHS Staat.
Die Türkei musste im Friedensvertrag von Sevres Ostthrakien mit Ausnahme von Konstantinopel an Griechenland abtreten, Zypern war von Großbritannien besetzt, die Grenze zu Armenien wurde neu gezogen. Die Türkei hat sämtliche Besitzungen außerhalb der Zentraltürkei und dem Kurdengebiet verloren.
Nach den Verhandlungen, zu denen die Mittelmächte **) nicht zugelassen waren und den nachfolgenden Verträgen ist es zu Protesten und teilweise bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Zur Beruhigung der Situation haben die Siegermächte kleinräumig Volksabstimmungen zugelassen, die vor 100 Jahren und später stattgefunden haben: So wurden Volksabstimmungen infolge des Versailler Vertrages in Nord- und Mittelschleswig (1920), in Oberschlesien (1921), in Ost- und Westpreußen und im Saargebiet (1935) durchgeführt.

Kärntner Volksabstimmung
Eine Volksabstimmung war in Südkärnten vorgesehen; ohne Abstimmung wurden das Kanaltal Italien und das Miestal, Unterdrauburg und die Gemeinde Seeland (Kankertal) dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Jugoslawien zugeschlagen; sie gehören heute zu Slowenien.
Es wurden zwei Zonen gebildet; die Zone A hat bis Rosegg, mitten durch den Wörthersee und bis nördlich von Völkermarkt gereicht. Die Zone B hat den Wörthersee zur Gänze umfasst und auch Klagenfurt. Für den Fall, dass die Abstimmung in der Zone A für den SHS-Staat ausfallen sollte, sollte auch in der Zone B abgestimmt werden.
Am 10. Oktober 1920 hat die Volksabstimmung im Grenzgebiet Südkärntens (Zone A) stattgefunden, in dem die slowenischsprachige Bevölkerungsgruppe ca. 70 % der Gesamtbevölkerung ausgemacht hat: 59,04 % aller Stimmen sind dabei an Österreich gegangen. Damit ist Südkärnten bei Österreich geblieben. Die Abstimmung in der Zone B wurde nicht mehr durchgeführt.

Ödenburg und Umgebung
In der Volksabstimmung in Ödenburg und Umgebung vom Dezember 1921 wurde entschieden, dass die Stadt Ödenburg (ung. Šopron) bei Ungarn verbleiben soll. Damit war Österreichs Absicht hinfällig, Ödenburg zur Hauptstadt seines neuen Bundeslandes Burgenland zu machen. 
Von den laut ungarischen Wahllisten 27.069 Berechtigten haben 24.063 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, 502 Stimmen waren ungültig: 15.338 hatten für Ungarn, 8.223 für Österreich gestimmt. In Ödenburg selbst hatten 72,8 % für Ungarn gestimmt, in den Ortschaften der Umgebung nur 45,4 %. Das Ergebnis der Abstimmung war umstritten, weil in die Wahllisten teilweise nicht in Ödenburg wohnhafte Schüler und Soldaten eingetragen wurden, während dort Wohnhafte nicht aufgenommen wurden. Obwohl Fertőrákos/Kroisbach, Ágfalva/Agendorf, Balf/Wolfs, Harka/Harkau und Šopronbánfalva/Wandorf gegen Ungarn gestimmt hatten, sind sie dennoch mit Ödenburg bei Ungarn verblieben.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
In wesentlichen Teilen der Friedensverträge nach dem 1. Weltkrieg wurden keine Volksabstimmungen ermöglicht, wie z.B. in Elsass-Lothringen, wo die eigentliche Sprachgrenze entlang der Vogesen verläuft; auch in Südtirol, das zu 89% deutschsprachig war, wurde keine Volksabstimmung zugelassen, weil im Geheimvertrag von London vom 26.04.1915 Italien für den Kriegseintritt auf Seiten der Entente ***) unter anderem Tirol bis zum Brenner zugesichert wurde. Auch in der Untersteiermark wurde keine Volksabstimmung ermöglicht, obwohl das Gebiet bis zum Bachern und das Abstaller Becken überwiegend deutschsprachig waren und die Städte Marburg, Pettau und Cilli überwiegend deutschsprachig waren. Die von den Ententemächten eingesetzte, vom US-LtCol Miles geleitete sogenannte Miles-Kommission hat 1919 die Untersteiermark und Südkärnten bereist. Obwohl in der Untersteiermark auch Kämpfe stattgefunden haben und Major Majster in Marburg in eine Kundgebung für Deutsch-Österreich mit 10.000 Teilnehmern schießen ließ, wurde dort keine Volksabstimmung zugelassen, während in Kärnten eine Volksabstimmung festgelegt wurde.
Auch im Deutschböhmen und Deutschmähren wurden trotz der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das der amerikanische Präsident Wilson am 08.01.1918 proklamiert hat und trotz bewaffneter Auseinandersetzungen keine Volksabstimmungen zugelassen. So bleibt die Kärntner Volksabstimmung vor 100 Jahren ein Einzelereignis, das für die Einheit Kärntens bestimmend war und ist. Die umstrittene, weil nicht fair abgehaltene Volksabstimmung im Ödenburg (Šopron) hat dazu geführt, dass das ungarische Staatsgebiet südlich des Neusiedler Sees wie ein Sporn in das österreichische Gebiet hineinragt und dass Eisenbahn- und Straßenverkehrswege durchschnitten wurden.
Die Verträge nach dem Ersten Weltkrieg haben Frieden ohne Versöhnung gebracht. Daran konnten auch die in einzelnen Bereichen durchgeführten Volksabstimmungen, so wichtig sie für die dort betroffene Bevölkerung gewesen sind, wenig ändern. Der Friede war unter anderem deshalb nur von kurzer Dauer, weil die Verträge nicht gerecht waren. Schon der amerikanische Präsident Abraham Lincoln hat gesagt: „Nichts, was nicht gerecht geregelt wurde, ist geregelt.“ Die geschichtlichen Ereignisse haben gezeigt, wie Recht er hatte.


*) Der Völkerbund, eine Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen, war eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Genf. Als Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz, nahm er am 10. Jänner 1920 seine Arbeit auf.

**) Die Mittelmächte waren eine der beiden kriegführenden Parteien im Ersten Weltkrieg. Das Militärbündnis erhielt seinen Namen wegen der zentraleuropäischen Lage der beiden Hauptverbündeten Deutsches Reich und Österreich- Ungarn. Später schlossen sich dem Bündnis das Osmanische Reich und Bulgarien an.

***) Die Entente (frz. „Einvernehmen“) war zunächst der Zusammenschluss von Frankreich, Großbritannien und Russland. Ihnen folgten Italien und später die USA, wobei sich im Laufe des Ersten Weltkrieges immer mehr Länder auf die Seite der Alliierten stellten.

Unterasinger_Franz.jpg  Bundessyndikus Dr. Franz Unterasinger
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